Offener Brief an Ministerpräsident Laschet und Ministerin Gebauer

10.01.2021

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,
sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer,

zunächst möchten wir uns ausdrücklich für Ihre klare Anerkennung der Tatsache bedanken, dass Schulen keine Treiber der Pandemie und insbesondere keine Hotspots sind. Darüber hinaus freuen wir uns sehr, dass Sie beide immer wieder betont haben, dass Präsenzunterricht gerade für jüngere Kinder die besten Bildungschancen ermöglicht und auch sozioökonomisch außerordentlich wichtig ist.
Dieses klare politische Bekenntnis zum hohen Stellenwert von Bildung und Bildungsgerechtigkeit ist insbesondere in diesen Zeiten ein wichtiges Signal, auch wenn sich dem manch vehemente, von Angst getriebene Stimme in unsachlicher Art und Weise entgegenstellt. Sie haben als politische Führung des Landes die Aufgabe, auf faktenbasierter Grundlage schwerwiegende Entscheidungen zu treffen und wir erkennen an, dass das gerade jetzt eine große Herausforderung ist. Die Datenlage der vergangenen Monate bestätigt Ihre oben genannten Aussagen und Ihren bisherigen Kurs allerdings eindeutig.
Vor diesem Hintergrund ist Ihr Entschluss vom 6. Januar umso enttäuschender, die Schulen pauschal – und entgegen Ihrer vorangegangenen Beteuerungen und der Entwicklung eines sehr überzeugenden Stufenplans – erneut zu schließen. Es ist weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar, alle Schüler:innen ungeachtet ihres Alters, ungeachtet ihrer Infektiosität und ungeachtet der vorhandenen Möglichkeiten des Infektionsschutzes in den Distanzunterricht zu schicken. Ebenso wenig wurden Ausnahmen für Schülergruppen vorgesehen, die in besonderem Maße auf das Lernen in Präsenz angewiesen sind, wie z.B. Förderschüler:innen, Schüler:innen vor dem Schulwechsel, in Abschlussklassen und Schulanfänger.
Neben den sehr langen Schließungen der Schulen und anderen Bildungseinrichtungen war das letzte Jahr geprägt von langen Phasen der Improvisation und (Re-)Organisation. Gerade vor diesem Hintergrund können wir uns – trotz der ernstzunehmenden Lage des Infektionsgeschehens – weder als Gesellschaft noch als politische Entscheidungsträger eine derartige erneute Schließung von Schulen und Bildungseinrichtungen leisten: Weder im Hinblick auf die jetzige prekäre Situation in den Familien, denen hierdurch anerkanntermaßen erneut „viel abverlangt wird“, noch im Hinblick auf die dadurch verursachten mittel- und langfristigen fatalen Defizite bei den Jüngsten der Gesellschaft.

Nehmen sie den Gesundheitsschutz ernst, aber nicht auf Kosten der heranwachsenden Generation!Die jetzigen Bedingungen können das zunächst geplante differenzierte Stufenmodell nicht ersetzen.

Dies aus folgenden Gründen:
Bei der Bezeichnung „Distanzunterricht“ handelt es sich um einen bloßen Euphemismus. Zum einen findet oft kein Online-Unterricht über Lernplattformen statt, sondern es werden lediglich Hausaufgaben in Form des „Wochenplans“ verteilt. Manchmal flankiert von einem informellen Austausch über eine Online-Plattform, der aber nicht dem Unterricht, sondern dem Kontaktaustausch dient, manchmal nicht. Hausaufgaben sind allenfalls geeignet, vorhandenes Wissen durch Wiederholung zu festigen, nicht aber neuen Lernstoff zu vermitteln. In diesen Fällen ist Distanzunterricht also gleichzusetzen mit „kein Unterricht“. Im ersten Lockdown gaben 50% der Lehrer an deutschen Schulen an, dass sie mit ihren Schüler:innenn keine einzige Stunde digitale Präsenzzeit pro Woche vereinbart haben.2 Zudem konnten nur 34% der Schulmitarbeiter berichten, dass ihre Schüler:innen ihre Aufgaben zuhause aktiv bearbeiten.

Selbst wenn nun einige Maßnahmen ergriffen wurden, um die Ausstattung der Schulen und Schüler:innen zu verbessern, kommt es entscheidend auf die jeweilige Lehrkraft an, ob überhaupt digitaler Unterricht erteilt wird. Zwar existiert an vielen weiterführenden Schulen ein Videokonferenztool auf den Lernplattformen, wodurch „Online-Unterricht“ theoretisch möglich ist, in der Praxis scheitert die Umsetzung aber immer wieder an überlasteten Servern und Internetverbindungen in der Schule, fehlendem Internetzugang einiger Schüler:innen oder auch schlicht am Willen oder der Kompetenz der Lehrkräfte bzw. der Schüler:innen und Eltern, diesen Unterricht umzusetzen. Im Ergebnis sind es Ausnahmefälle, in denen ernstzunehmender Online-Unterricht tatsächlich für alle Schulbeteiligten durchgeführt wird. Da hilft auch kein Verweis auf die Zweite Verordnung zur befristeten Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen gemäß §52 SchulG, die „gleichwertigen“ Unterricht vorschreibt. Dies wird in der Realität überwiegend nicht umgesetzt.

Daraus folgt im Umkehrschluss: Ob und wieviel Kinder lernen, hängt vom Engagement und den Möglichkeiten ihrer Eltern ab. Doch selbst die Eltern, die über den nötigen Background verfügen und ihre Kinder gerne unterstützen würden, werden dies nicht während ihrer Berufstätigkeit stemmen können, insbesondere dann nicht, wenn mehrere Kinder zu beschulen oder jüngere Geschwister zu betreuuenfref sind. Überdies sind die meisten Eltern keine Pädagogen. Nicht umsonst genießen Lehrer eine langjährige fundierte Ausbildung und erhalten einen Verdienst der oberen Einkommensklasse.

Wir sorgen uns aber nicht nur um die adäquate Ausbildung unserer eigenen Kinder, sondern vor allem auch um Schüler:innen aus bildungsfernen Schichten, deren Bildungschancen gerade ins Bodenlose abrutschen: Sie werden in der aktuellen Situation gleich mehrfach benachteiligt und weiter abgehängt. Diesen Kindern wird zu Hause weder die nötige Hilfestellung bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zuteil, noch haben sie eine Umgebung, die ein konzentriertes Lernen ermöglicht. Dies ist umso dramatischer in Familien, in denen die Kinder die Einzigen sind, die Deutsch als Muttersprache begreifen, und die über ihre Bildung die Grundlage schaffen für eine erfolgreiche Integration.

Aber selbst, wenn tatsächlich digitaler Unterricht stattfände, würde dieser den Präsenzunterricht in der Primar-, Unter- und Mittelstufe nicht ansatzweise ersetzen. Denn gerade für Grundschüler:innen funktioniert Distanzunterricht schlicht nicht. Ausweislich entsprechender pädagogischer und psychologischer Einschätzungen ist es Sechs- bis Zehnjährigen nicht möglich, vier bis sechs Stunden am Tag vor dem PC zu sitzen und auf diese Art zu lernen. Sie brauchen persönliche Ansprache und den Kontakt zu ihren Mitschüler:innen. Auch hier gilt: „Distanzunterricht“ ist „kein Unterricht“.

Zuletzt ist festzuhalten, dass nach der Rückkehr aus dem Distanzlernen nach so einer extrem langer Pause und mangelnden Unterrichtsstruktur eine weitere Phase eingeschränkter Lernvermittlung zu konstatieren ist: Insbesondere im Grundschulbereich sind erneut – und abhängig vom Geschick der Lehrkraft und des Zustands der Klasse – weitere Tage oder gar Wochen nötig, um die eigentlich übliche Lernatmosphäre und Konzentration im Präsenzunterricht zurückzugewinnen. Ein weiteres Aussetzen und Vertagen des eigentlichen Bildungsauftrags ist damit unausweichlich.

Wir haben der Pressekonferenz von Ihnen, sehr geehrte Ministerin Gebauer, und Herrn Bildungsminister Dr. Stamp entnommen, dass die Aussetzung des Präsenzunterrichts an allen Schulen NRWs – anders als im Frühjahr 2020 – nicht damit begründet wurde, dass in Schulen mit einem erhöhten Infektionsgeschehen zu rechnen sei. Vielmehr sollten die Schulen damit „einen weiteren Beitrag“ leisten, die Pandemie zurückzudrängen. Zu diesem Zwecke ist diese Maßnahme aber weder geeignet noch erforderlich und insbesondere nicht angemessen und daher umgehend zu beenden.

Wie Sie selbst bestätigen, haben sich entgegen mancher Meinungsmache Schulen nicht als Pandemietreiber erwiesen, ebenso wenig wie Kindertagesstätten. Außerdem ist wissenschaftlich unbestritten und von Ihnen ebenfalls anerkannt, dass sich Kinder je jünger, desto weniger häufig mit SarsCov2 anstecken.4 Da Kinder weniger häufig und weniger symptomatisch erkranken, geben sie auch weniger häufig das Virus weiter. Insofern sind die Grundschulen und Unterstufen (neben Kitas und Kindertagespflegeinrichtungen) der am wenigsten geeignete Ort, durch Aufhebung des Präsenzbetriebs bzw. Einschränkung der Betreuung eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wir begrüßen die insoweit folgerichtige Entscheidung, die Kindertagesstätten geöffnet zu halten.
Auch ist es nicht erforderlich, den Präsenzunterricht auszusetzen. Es wären zunächst zahlreiche mildere Mittel innerhalb und außerhalb der Schulen auszuschöpfen, um dem Ziel der Pandemiebekämpfung Rechnung zu tragen:

Außerhalb der Schule wären Orte, wo erwachsene Menschen zusammenkommen, die das Virus weit häufiger weitergeben, vorrangig mit weiteren Einschränkungen zu versehen, allen voran der Arbeitsplatz. Bis heute ist es Arbeitgebern rechtlich möglich, Ihre Mitarbeiter ungeachtet der Möglichkeit zu Homeoffice per Präsenzgebot vor Ort arbeiten zu lassen. Letztlich ist insbesondere ein fokussierter Schutz der krankheits- und altersbedingten vulnerablen Gruppen das längst überfällige Gebot der Stunde. Die Verantwortung der Pandemiebekämpfung liegt bei uns Erwachsenen, nicht bei den Kindern!

Innerhalb der Schulen ist ein Katalog milderer Mittel der aktualisierten Stellungnahme der DGPI und der DGKH5 zu entnehmen: Implementierung eines strukturierten Ausbruchsmanagements; konsequente Einhaltung der Maskenpflicht der Lehrer und aller Schüler:innen jenseits des Grundschulalters, Wechselunterricht für Schüler:innen ab 14 bzw. 16 Jahren, Screening-Testungen, Staffelung der Beginn- und Pausenzeiten, zusätzliche Busse und Bahnen auf dem Schulweg etc. werden dort als mögliche Maßnahmen benannt. Außerdem müsste endlich auf Unterrichtsräume außerhalb der Schulgebäude wie Sport- und Messehallen sowie zusätzliches Lehr- bzw. Betreuungspersonal, z.B. Referendare und Studierende zurückgegriffen werden.

Schließlich ist die Schulschließung unangemessen, weil sie für Kinder und ihre Eltern zu sowohl kurzfristigen als auch langfristigen erheblichen Beeinträchtigungen, ja Bedrohungen unterschiedlichster Art führen. Kurz: Schulen und Kindertagesstätten sind systemrelevant und müssen bestmöglich funktionieren!

Durch das Distanzlernen wird eine enorme Zahl von Kindern und Jugendlichen gefährdet und vernachlässigt. Sowohl psychische als auch körperliche Beeinträchtigungen konnten bereits nach wenigen Wochen eingeschränkten Schul- und Sportbetriebs wissenschaftlich bzw. behördlicherseits festgestellt werden.6 Versagte Schulbildung in Präsenz führt dazu, dass die sozialen und im Zweifel sogar körperlich-seelischen Grundbedürfnisse von Kindern nicht erfüllt werden. Diese bestimmen aber ihre Entwicklung und begünstigen nun Entwicklungsdefizite auf Jahre. Sind diese Gesundheitsbeeinträchtigungen gegenüber den Covid-19 bedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen je ernsthaft abgewogen worden?

Schulen und KiTas spielen eine wesentliche Rolle bei der Aufdeckung medizinischer oder sozialer Probleme wie Vernachlässigung und Gewalt im Elternhaus.7 Überdies ist das Recht auf Bildung essenziell und kann gerade für jüngere Schüler:innen, wie zuvor gezeigt, nur durch Präsenzunterricht gewährleistet werden. Die Bildung seiner Bürger ist gerade in einem ressourcenarmen Staat wie Deutschland die vorrangige staatliche Aufgabe und gesetzlich verankerte Pflicht, die nunmehr nicht mehr angemessen erfüllt wird. Und vor allem kann sie nicht – vergleichbar der Zahlung des Gewinnausfalls von Gaststätten – ohne weiteres anderweitig kompensiert oder nachgeholt werden. Sie ist daher vorrangig aufrecht zu erhalten.

Frau Ministerin, Sie haben auch in verschiedenen Interviews nach dem Pressebriefing am 6. Januar mehrfach betont, dass Sie aufgrund des Beschlusses der Videoschaltkonferenz keine andere Entscheidungsmöglichkeit gesehen haben. Andere Bundesländer wie Hessen und Bremen haben den Beschluss der Videoschaltkonferenz vom 5.Januar auch zugunsten zumindest der jüngeren Schüler:innen ausgelegt und bieten den Präsenzunterricht bei gleichzeitiger Aussetzung der Präsenzpflicht an. Auch diesen Weg hätten Sie (weiterhin) gehen können.

Im Koalitionsvertrag für NRW wird ein Land des Aufstiegs durch Bildung beschrieben. Zurzeit erleben wir jedoch eher den freien Fall im „Bildungsland NRW“ und gebrochene Versprechen. Wie können wir ernsthaft darauf vertrauen, dass die neuerliche ausdrückliche Zusage: „Keine Verlängerung des Lockdown nach dem 31. Januar 2021“ tatsächlich eintreten wird? Glauben Sie ernsthaft, das Infektionsgeschehen sei dann ein anderes? Zudem hat sich Ihre Partei, Frau Ministerin Gebauer, als oberstes Ziel die „weltbeste Bildung für jeden“ gesetzt. Wann können wir damit rechnen, dass unsere Schüler:innen in den Genuss selbiger kommen? Wir appellieren an Sie, Ihren eigenen Koalitionsvertrag zu erfüllen: Öffnen Sie den Präsenzunterricht in NRWs Schulen. Wenn nicht für alle Jahrgangsstufen, dann jedenfalls nach dem Stufenmodell und altersgestaffelt, wenigstens für die Schüler:innen der Klassen 1 bis 6!

Mit dieser Forderung sind wir in sehr guter, fachlich fundierter Gesellschaft seitens der/des:

Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie
Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene
Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin als Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften
Verband der Schulpsychologinnen und Schulpsychologen Baden-Württemberg (LSBW)
Dr. Susanne Eisenmann, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg (CDU)
Senatorin für Kinder und Bildung Dr. Claudia Bogedan des Landes Bremen (SPD)
Pisa-Koordinator Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung (OECD)

 

Zu guter Letzt: Kinder wählen vielleicht noch nicht und haben – das wurde mit der Corona-Pandemie wieder erschreckend klar – auch keine nennenswerte Lobby. Aber wir Eltern wählen. Wir Eltern sind produktive, wertschöpfende Mitglieder dieser Gesellschaft und wir sind nicht bereit, uns noch länger mit anzusehen, wie unseren und anderen Kindern ihr Recht auf Bildung vorenthalten wird. Stellen Sie die Interessen und Bedürfnisse der Kinder daher nicht länger hinten an, nehmen Sie Ihre diesbezügliche Verantwortung wahr!

 

Mit freundlichen Grüßen

Nele Flüchter, Dr. Franziska Reiß, Stefanie Seifert, Antje Peth-Anders, Judith Bachmann, Svenja Streich, Prof. Dr. Nicole Reese, Sabine von Thenen, Antonia von Eiden Maaike Tiedge