Brief an die Menschenrechtskommissarin des Europarates

Düsseldorf, 14. November 2021

Sehr geehrte Frau Mijatovic,

wir wenden uns heute als Elterninitiative #lautfuerfamilien hilfesuchend und mit der Bitte um Unterstützung an Sie. Sie hatten mit Ihrem Schreiben vom 13. Juli 2021 an Frau Christine Lambrecht als deutsche Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend appelliert, in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie die Rechte von Kindern und Jugendlichen besser zu achten und vor allem Schulschließungen als letztes Mittel in der Pandemiebekämpfung zu betrachten.

Frau Ministerin Lambrecht hat Ihnen mit Schreiben vom 24. August 2021 geantwortet und versichert, dass alle Maßnahmen, die die Rechte von Kindern mittelbar oder unmittelbar beschränken, stets sorgsam auf ihre Verhältnismäßigkeit und Auswirkungen für Kinder geprüft werden müssen. Sie stimmt mit Ihnen überein, dass Schließungen von Kitas und Schulen nach wie vor nur das letzte Mittel bei der Bekämpfung der Pandemie sein dürfen.

Gestern nun wurde ein Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und FDP, die mutmaßlich die neue deutsche Regierung stellen werden, u. a. zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes in erster Lesung im Bundestag beraten. Den Gesetzesentwurf haben wir Ihnen in der Anlage beigefügt. Darin soll der § 28 a Absatz 7 Infektionsschutzgesetz wie folgt gefasst werden:

„(7) 1 Unabhängig von einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können bis zum Ablauf des 19. März 2022 folgende Maßnahmen notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 sein, soweit sie zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich sind:

  1. die Anordnung eines Abstandsgebots im öffentlichen Raum, insbesondere in öffentlich zugänglichen Innenräumen,
  2. die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maskenpflicht),
  3. die Verpflichtung zur Vorlage von Impf-, Genesenen- oder Testnachweisen sowie an der Vorlage solcher Nachweise anknüpfende Beschränkungen des Zugangs in den oder bei den in Absatz 1 Nummer 4 bis 8 und 10 bis 16 genannten Betrieben, Gewerben, Einrichtungen, Angeboten, Veranstaltungen, Reisen und Ausübungen, 
  4. die Verpflichtung zur Erstellung und Anwendung von Hygienekonzepten, auch unter Vorgabe von Personenobergrenzen, für die in Absatz 1 Nummer 4 bis 8 und 10 bis 16 genannten Betriebe, Gewerbe, Einrichtungen, Angebote, Veranstaltungen, Reisen und Ausübungen,   
  5. die Erteilung von Auflagen für die Fortführung des Betriebs von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 [Hinweis der Unterzeichner: Dies umfasst Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen wie Kindergärten Hochschulen, außerschulischen Einrichtungen der Erwachsenenbildung oder ähnlichen Einrichtungen] und
  6. die Anordnung der Verarbeitung der Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern in den oder bei den in Absatz 1 Nummer 4 bis 8 und 10 bis 16 genannten Betrieben, Gewerben, Einrichtungen, Angeboten, Veranstaltungen, Reisen und Ausübungen, um nach Auftreten einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 mögliche Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen zu können.

2 Individuelle Schutzmaßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern nach § 28 Absatz 1 Satz 1 sowie die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 im Einzelfall nach § 28 Absatz 1 Satz 2 bleiben unberührt. 3Die Absätze 4 bis 6 gelten für Schutzmaßnahmen nach Satz 1 entsprechend.“

Damit beabsichtigen die o. a. Fraktionen etwaige Lockdowns, allgemeine Kontaktbeschränkungen, Schließungen von Geschäften etc. auszuschließen (so auch der deutschen Presse zu entnehmen), ABER Auflagen für den Schulbetrieb sowie Schulschließungen zuzulassen. Dies widerspricht aufs Schärfste Ihrem Hinweis Schulschließungen als letztes Mittel in der Pandemiebekämpfung vorzusehen. Auch widerspricht der geplante Gesetzesentwurf dem Key Issue 1 „Recommandations from the European Advisory Group for schooling during COVID-19“ der World Health Organisation (WHO) vom Juni 2021.

Trotz aller mittlerweile vorliegenden Erkenntnisse im Hinblick auf die Rolle und die eigene Betroffenheit von Kindern in der Corona-Pandemie – nämlich, dass Kinder keine Treiber der Pandemie sind und dass eine COVID-19 Erkrankung bei Kindern in der Regel harmlos verläuft – sieht der Maßnahmenkatalog des deutschen Gesetzgeber Schulschließungen nach wie vor als probates Mittel vor. „Auflagen“ an den Schulen gemäß § 28 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 IfSG umfasst auch die Auflage, dass Kinder einen Sicherheitsabstand von 1,5m zum Sitznachbarn im Klassenraum einhalten können müssen. Dies ist aufgrund der großen Klassen in Deutschland in der Regel nur durch eine Teilung der Klassen und so genannten Wechselunterricht der Schüler zu bewerkstelligen. Solche „Auflagen“ bedeuten also einen Ausschluss der Hälfte der Schüler im Tages- oder Wochenwechsel. Sie sind damit partiellen Schulschließungen gleichzustellen. Hierbei handelt es sich um eine Maßnahme, die gleichrangig und unter denselben Voraussetzungen wie beispielsweise ein Hygienekonzept in einem Betrieb angewendet werden kann. Das verstehen wir nicht unter einem „letzten Mittel bei der Bekämpfung der Pandemie“ wie Frau Ministerin Lambrecht es Ihnen zusicherte.

Noch evidenter ist die Möglichkeit der Schulschließung nach § Abs. 7 S. 2 Alt. 2 IfSG. Diese sollen „im Einzelfall“ möglich sein. Nach einer älteren Fassung des IfSG, in der diese Regelung mit nahezu identischem Wortlaut enthalten war, wurden auf dieser Grundalge im März 2020 Schulen über Wochen geschlossen. Insofern bietet diese Regelung keinen Schutz vor ähnlichen Schritten. Auch scheint es nicht darum zu gehen, einzelne Schulen, an denen Covid-Ausbrüche stattfinden, schließen zu können, und so den Herd eindämmen zu können. Dies ergibt sich aus dem Verhältnis von § Abs. 7 S. 2 Alt. 1 IfSG zu § Abs. 7 S. 2 Alt. 2 IfSG: Während „individuelle Schutzmaßnahmen“ gegenüber bestimmten Personen ermöglicht werden sollen, ist in Bezug auf Schulschließungen gerade nicht die Rede von der Schließung „individueller Schulen“ Wann und unter welchen Voraussetzungen die Politik gewillt ist, davon Gebrauch zu machen, bleibt jedenfalls offen. Denn es ist nicht etwa klargestellt worden, dass Schulschließungen erst stattfinden dürften, wenn die in § Abs. 7 S. 1 Nr. 1 bis 6 IfSG Maßnahmen vollständig ausgeschöpft wurden, noch sind „harte Kriterien“ an Schulschließungen wie beispielsweise bestimmte Inzidenzen, Hospitalisierungsrate, Belegung der Intensivbetten etc. Damit ist der Politik in Bezug auf Schulschließungen weitestgehend freie Hand gewährt.

Im Hinblick auf die o.a. Recommandations der WHO hält sich Deutschland im Übrigen auch nicht an andere der dort genannten Key Issues. Zum Beispiel: Key Issue 2 – In Deutschland werden asymptomatische Schüler/-innen anlasslos 2 bis 3 Mal die Woche getestet, ohne dass die Ergebnisse der Testungen nach unserer Wahrnehmung bisher evaluiert wurden (Beispiel: in Nordrhein-Westfalen lag die Positivquote aus den Schultests zuletzt bei nur 0,04%, ebenso in Hessen; es wird gleichwohl darauf bestanden, dass trotzdem weiter getestet wird). Zusätzlich wird den Kindern in den meisten Bundesländern abverlangt, im Unterricht auch am Platz Maske zu tragen, was es in der Erwachsenenwelt so gut wie gar nicht mehr gibt.

Entgegen der Beteuerungen von Ministerin Lambrecht in ihrem Brief vom 24. August 2021 an Sie, hat die Bundesregierung nach unserer Wahrnehmung bisher nach wie vor nicht die Erfahrungen anderer Staaten bei der Bekämpfung der Pandemie im Hinblick auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in ihre Überlegungen einbezogen. Immer noch werden in Deutschland Kinder und Jugendliche über Gebühr mit Maßnahmen belegt, die Erwachsenen nicht zugemutet werden (s.o.). Zudem wird der Impfdruck auf die Kinder ab 12 Jahren weiter hochgefahren; Bayern hat beispielsweise entschieden, dass auch Kinder und Jugendliche ab sofort und bei der „Warnstufe rot“ (= bayernweit mehr als 600 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt) Fußballstadien, Kinovorstellungen, Konzerte und ähnliche öffentliche Veranstaltungen nicht besuchen dürfen, wenn sie nicht geimpft sind. Hiermit wird Kindern die soziale und gesellschaftliche Teilhabe verwehrt, welches die deutsche StiKO mit der Impfempfehlung auf jeden Fall vermeiden wollte. Auch andere Bundesländer haben vergleichbare Regelungen bereits erlassen oder planen solche.

Wir bitten Sie inständig zum Wohle der deutschen Kinder und Jugendlichen mit der deutschen Bundesregierung hierzu erneut in Kontakt zu treten.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Nicole Reese

Dr. Franziska Reiß

Nele Flüchter

Céline Stöckel