Interview mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Sabine Salloch: Ethik in Zeiten von Corona

vom 08.06.2021

Kurzprofil der Interviewpartnerin

Mein Name ist Sabine Salloch. Ich arbeite seit vergangenem Sommer an der Medizinischen Hochschule Hannover und leite dort das Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin. Meiner Ausbildung nach bin ich Medizinerin und Philosophin. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder im Alter von 2 und 6 Jahren.

Sie sind Medizinethikerin. Was macht eine Medizinethikerin und mit welchen Themen beschäftigen Sie sich derzeit vorrangig?

Meine Aufgaben liegen überwiegend im Bereich der Forschung und Lehre. Daneben arbeite ich auch in verschiedenen beratenden Gremien. Ich beschäftige mich mit Themen der Klinischen Ethik, d.h. moralischen Fragen, die am Krankenbett auftreten, und der Forschungsethik, d.h. Fragen, die den Umgang mit Menschen und personenbezogenen Daten in der medizinischen Forschung betreffen. In letzter Zeit beschäftigen mich ganz besonders ethische Aspekte der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Wir haben Sie im WDR 5 Tagesgespräch gehört. Dort ging es um Covid-Impfungen von Kindern. Sollte man aus medizinischer und ethischer Sicht eine Impfpflicht für Kinder einführen und sollte der Besuch von Betreuungseinrichtungen an eine Impfung gekoppelt werden?

Eine Impfpflicht steht aus meiner Sicht im Moment zum Glück nicht im Fokus der Diskussion. Wie Sie wissen, haben wir etwas mit „Pflicht“ annähernd Vergleichbares in Deutschland ja im Moment nur im Hinblick auf die Masern. Die Masern sind eine Krankheit, die für Kinder und Jugendliche klinisch eine ganz andere Bedeutung haben als Covid 19 (nach allem, was wir bisher wissen). Sehr relevant im Hinblick auf Covid 19 sind im Moment aber die Fragen nach der Zulassung von Impfstoffen, der Empfehlung durch die Stiko und die politische Weichenstellung. Der Besuch von Betreuungseinrichtungen sollte aus meiner Sicht nicht an eine Covid 19-Impfung gekoppelt werden.

 

Was sind die Gründe für Ihre Meinung?

Es gibt mehrere gute Gründe: Für eine umfassende Nutzen-Risiko-Abwägung der Covid 19-Impfung bei Kindern fehlen bisher noch weitere wissenschaftliche Daten. Zudem merken wir aktuell schon bei den Impfungen der Erwachsenen, dass „sozial Starke“ es leichter haben, zügig an einen Impftermin zu kommen, z.B. Menschen, die Kontakte in den medizinischen Bereich haben oder einfach gut ausgebildet sind und wenig Probleme haben, sich in den komplexen Strukturen des Gesundheitswesens zu orientieren. Und auch die sogenannten „Drängler“. Ich hätte Angst, dass Kinder aus Familien, die es weniger leicht haben, durch eine Nicht-Impfung noch weitere Nachteile erleiden würden.

Halten Sie es persönlich für vertretbar, Kinder zu impfen mit dem Ziel eine Herdenimmunität zu erreichen?

Eine Instrumentalisierung von Kindern ausschließlich für die gesundheitlichen Belange anderer Bevölkerungsgruppen lehne ich ab. Die individualethischen Belange (d.h. die Interessen des Kindes) sollten hier Vorrang haben vor der populationsbezogenen Perspektive. Wenn sich die Nutzen-Risiko-Abwägung für das einzelne Kind aber als vorteilhaft herausstellt und es geimpft wird, ist die Förderung der Herdenimmunität aber selbstverständlich ein weiterer sehr wünschenswerter Effekt.

Wie bewerten Sie das Verhalten der Politik, insbesondere von Herrn Spahn, der ohne allgemeine Empfehlungen der Stiko die Impfung von Kindern ab 12 Jahren medial vertritt?

Kinder und Jugendliche sind durch die Risiken und Folgen der Erkrankung Covid 19 nach allem, was wir wissen, weniger gefährdet als andere Bevölkerungsgruppen. Demzufolge mussten sie viele Monate lang „den Kopf hinhalten“ für Belange, die überwiegend die Älteren betreffen. Wenn die Politik sich nun verstärkt den Jüngeren zuwendet, ist das an sich überaus wünschenswert. Ob wir den Jüngeren aber tatsächlich „etwas Gutes tun“ mit der Covid 19-Impfung ist eine vorwiegend wissenschaftliche Frage. Hier sehe ich die Expertise daher in wissenschaftsbasierten Gremien wie der Stiko.

Viele Jugendlichen wollen sich ungeachtet der Stiko-Empfehlung impfen lassen, um ihre Freiheiten zurückzubekommen. Wie bereits vorstehend ausgeführt, versucht die Politik auch medial die Impfbereitschaft zu erhöhen. Wie bewerten Sie das Ansinnen der Politik und was raten Sie den Jugendlichen und deren Familien?

Ihre Frage ist dann sinnvoll gestellt, wenn „Freiheiten“ an eine Impfung geknüpft werden. Im Moment (die Verordnungen ändern sich fortlaufend) liegt der Vorteil der Geimpften vor allem darin, dass sie vielfach auf das lästige Testen verzichten können. Vielleicht wäre es aktuell wichtig, bei den Jugendlichen Verständnis für die Notwendigkeit von Testungen zu schaffen und – perspektivisch – ihnen zuverlässige, unverzerrte und zielgruppengerecht aufbereitete Informationen zur Covid 19-Impfung zur Verfügung zu stellen, so dass sie gemeinsam mit ihren Eltern eine informierte Entscheidung treffen können.

Viele Eltern sind froh, dass keine Impfpflicht beschlossen wurde, haben aber Sorge, dass die Kinder und Jugendlichen, die nicht geimpft sind, Nachteile zu erwarten haben, bspw. weiterhin einen Mund-Nase-Schutz tragen müssen. Ist die Sorge begründet und wie beurteilen Sie eine solche mögliche Differenzierung?

Hygienemaßnahmen wie das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes werden überwiegend durch Verordnungen geregelt, also Rechtsnormen, die durch die Exekutive erlassen werden. Es fällt mir schwer, diesbezüglich in die Zukunft zu schauen, also die Frage zu beantworten, welche Personen bei welcher Gelegenheit noch einen Mund-Nasen-Schutz werden tragen müssen. Wünschen würde ich mir bei den Verordnungen die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hier haben wir in den vergangenen Monaten viel gelernt, zum Beispiel zur Bedeutung der Aerosole und zu den Unterschieden zwischen Indoor- und Freiluft-Betätigungen.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr in unserer Gesellschaft ein, dass Ungeimpfte, insbesondere auch Kinder, gesellschaftlich gemieden werden?

Diese Frage kann ich nicht als Wissenschaftlerin, sondern nur aus meinen Alltagswahrnehmungen heraus beurteilen. In meinem Umfeld habe ich bisher keine erkennbare Diskriminierung Nicht-Geimpfter erlebt. Wir treffen Bekannte im Rahmen der geltenden Hygiene-Regeln – ob geimpft oder nicht. In anderen Lebenswelten mag das aber anders sein. Ich habe die Hoffnung, dass mit Abklingen der Pandemie, der „Corona-Impfstatus“ in ein bis zwei Jahren ebenso wenig ein Thema sein wird wie der Varizellen- oder Keuchhusten-Impfstatus heutzutage.

Es wird ja immer von der Rückgabe der Grundrechte gesprochen. Ist das sprachlich korrekt?

Sprachlich ist das korrekt. Ob es juristisch korrekt ist, sollte man eine*n Jurist*in fragen.

Foto: Sabine Salloch