An die fachpolitischen Sprecher*innen im hessischen Landtag

07.02.2021

Sehr geehrte fachpolitische Sprecherinnen des hessischen Landtages,

seit einigen Wochen erheben Kinderärzte, pädiatrische Fachgesellschaften, Kinderpsychologen, Seelsorger und Sprecher von Kinderschutzvereinen in den Leitmedien ihre Stimme stetig lauter und appellieren an die politischen Verantwortlichen, die besorgniserregende Lage von Kindern und Jugendlichen endlich stärker in den Fokus zu nehmen.

Unisono weisen sie darauf hin, dass die Schwächsten der Gesellschaft am stärksten unter den Einschränkungen – wie etwa der Verlust sozialer Räume, wozu insbesondere Schulen und Sportvereine zählen – zu leiden haben. Diese Fachleute sorgen sich um Wohl und Gesundheit der Minderjährigen und fordern immer vehementer dazu auf, nicht eine ganze Generation im Stich zu lassen.

Die vorliegenden wissenschaftlichen Daten und Studien bieten bisher keine zweifelsfreie Begründung dafür, Kinder und Jugendliche derart rigoros in ihren Rechten einzuschränken. Das Virus hat sich durch die Mutation in seinen Grundeigenschaften nicht verändert, aus medizinischfachlicher Sicht gibt es bisher keine finale Einordnung, ob von der in allen Altersgruppen beobachteten erhöhten Infektiosität der neuen B.1.1.7 Variante ein erhöhtes Risiko ausgeht. Fachleute sind sich einig, dass die bekannten Hygienemaßnahmen (AHA-L Regeln) weiterhin gültig und ausreichend sind, um Ansteckungen zu vermeiden.

Die Mitarbeiterinnen in Schul- und Betreuungseinrichtungen wie Lehrerinnen und Erzieherinnen sind in ihrer Altersgruppe (nämlich der 25- bis 65-Jährigen) kaum gefährdet, schwer an Covid-19 zu erkranken oder gar daran zu sterben. Diejenigen, die einer Risikogruppe angehören, sollen die Möglichkeit haben, mit Attest zu Hause zu bleiben. Die Panik, die über
Gewerkschaften und Verbände verbreitet wird, ist wissenschaftlich nicht haltbar und moralisch verwerflich.

Kinder selbst sind durch das Virus kaum gefährdet, erkranken meist nur leicht und geben das Virus seltener weiter als Erwachsene. Alle ihnen auferlegten Maßnahmen gelten weitgehend nicht ihrem eigenen, sondern dem Schutz von Risikogruppen. Das Gesundheitsamt Frankfurt hat
in den zurückliegenden Monaten 7.500 Testungen an Schulen und Kitas durchgeführt und die dadurch gewonnenen Ergebnisse veröffentlicht: Die Positivrate betrug im Durchschnitt zwischen 1% und 4% im Zeitablauf. Es haben keine nennenswerten Ansteckungen in den Einrichtungen
stattgefunden, ein Infektionsgeschehen innerhalb der Einrichtungen war nicht zu verzeichnen.

Die Schließung der Schulen ist Symbolpolitik und lässt sich anhand dieser Zahlen nicht rechtfertigen. Es wurde uns Eltern seitens der Politik den Sommer über immer wieder versichert, dass man nicht die Fehler aus dem Frühjahr 2020 wiederholen würde, als man Schulen und Kitas aus reiner Vorsicht geschlossen hatte.

Die hessische Landesregierung sieht gemäß Ministerschreiben an Schulen vom 21. Januar 2021 vor, ab dem 15. Februar 2021 die Jahrgänge 1-6 in das Wechselmodell zu schicken. Die weiterführenden Schulen sollen voraussichtlich bis März im Distanzunterricht bleiben. Das bedeutet, dass die Schülerinnen ab Klasse 7 dann bis zur Rückkehr in die Schule über drei Monate keinen Präsenzunterricht gehabt haben werden.

Eine solche schrittweise Öffnung, die sich bis Ostern oder gar länger hinziehen könnte, ist für uns keine befriedigende Lösung und für die Kinder und Jugendlichen nicht hinnehmbar.

Das Kultusministerium hat im Herbst 2020 den Leitfaden „Schulbetrieb im Schuljahr 2020/2021 – Planungsszenarien für die Unterrichtsorganisation orientiert an der Entwicklung des Infektionsgeschehens“ veröffentlicht. Dieser sieht vier Planungsszenarien (Stufen 1-4) vor, die sich am Infektionsgeschehen orientieren sollen. Nach diesem Leitfaden können die Grundschulen von derzeit Stufe 2 bei einem sinkenden Infektionsgeschehen NICHT ins Wechselmodell, also Stufe 3, gehen.

Außerdem sieht der Leitfaden vor, dass sich die Maßnahmen nach dem regionalen, lokalen oder auf einzelne Schulen bezogenen Infektionsgeschehen richten müssen. So soll gewährleistet werden, dass auch bei verschärfter Infektionslage so viel Präsenzunterricht wie möglich an den Schulen stattfindet. Zitat: “Vor allem in den Jahrgangsstufen 1 bis 6 ist die Einrichtung konstanter Lerngruppen prioritär in den Blick zu nehmen und damit der Präsenzunterricht im Rahmen der Stundentafel sicherzustellen.” Noch im Dezember 2020 wurde der Wechselunterricht an eine Inzidenz von 200 geknüpft – davon sind wir in Hessen weit entfernt.

Wir fordern für die Grundschulen die Rückkehr zum vollständigen Präsenzunterricht:

• Der Präsenzunterricht ist epidemiologisch vertretbar, da jüngere Kinder nicht so infektiös sind wie Erwachsene. Deswegen kann aus pädagogischen Gründen auf die MNB im Unterricht verzichtet werden und auch der Mindestabstand von 1,50 Metern muss innerhalb des Klassenverbands/ Kohorte nicht eingehalten werden.

• Lernschwierigkeiten oder -rückstände können im Distanzunterricht nur schwerlich zunächst erfasst und dann behoben werden. Zudem haben viele Kinder zu Hause keine richtige Möglichkeit, in Ruhe und konzentriert zu lernen. Die Schule ist darüber hinaus ein Ort der Sicherheit. Gerade für Kinder aus sozial ungünstigen familiären Strukturen übernehmen Lehrkräfte eine regulierende Wirkung, da sie frühzeitig die ersten Anzeichen erkennen können, wenn mit einem Kind etwas nicht in Ordnung ist, sei es, weil es krank ist, sei es, weil es zu Hause Gewalt erfährt.

Ziel der einschränkenden Maßnahmen ist, die Zahl der Kontakte zu reduzieren. Dies wird durch den von Ihnen vorgeschlagenen Wechselunterricht an den Grundschulen nicht erreicht:

• Denn beim Wechselmodell an Grundschulen bedeutet dies, dass die Kinder, die nicht im Präsenzunterricht sind, betreut werden müssen.

• Daraus ergibt sich, dass die eine Hälfte der Klasse mit der Klassenlehrerin im Unterrichtsraum ist und die andere Hälfte mit einer weiteren Aufsichtsperson in einem anderen Raum betreut wird.

• Wenn man davon ausgeht, dass nicht Kinder die Infektionen in die Schulen tragen und dort weiterverbreiten, sondern die Erwachsenen (lt. Aussage Gesundheitsamt FFM), dann ist diese Lösung kontraproduktiv, da die Kinder dieser Klasse dann mit doppelt so vielen Erwachsenen Kontakt haben als im vollen Präsenzunterricht.

• Noch mehr Kontakte entstehen, wenn die Betreuung sich in Form einer Notbetreuung an der Systemrelevanz der elterlichen Berufe orientiert, da dann – wenn beide Elternteile arbeiten müssen – die Betreuung zu Hause anderweitig sichergestellt werden muss (Babysitter, Großeltern, o.ä.).

Deswegen fordern wir vollen Präsenzunterricht im festen Klassenverband mit fester Zuordnung einer möglichst kleinen Zahl an Lehrkräften, sowie die Wiederaufnahme des regulären Stundenplans und die Zeiten der Verlässlichen Schule.

Wir fordern für die weiterführenden Schulen mindestens die Rückkehr ins Wechselmodell!

• Die älteren Kinder ab Klasse 7 befinden sich seit Mitte Dezember im Distanzunterricht, viele von ihnen lernten auch geraume Zeit davor schon im Wechselunterricht und haben seit dem Ende der Sommerferien bis zum Beginn der Herbstferien nur insgesamt sieben Wochen vollen Präsenzunterricht gehabt. Ende Oktober sind die ersten weiterführenden Schulen ins Wechselmodell übergegangen.

• Die Jugendlichen benötigen dringend soziale Kontakte und Interaktion unter Gleichaltrigen sowie mit der Lehrkraft, dies kann durch Videokonferenzen nicht ersetzt werden Die Kontakte sind zur Persönlichkeitsbildung relevant, die Kinder und Jugendlichen befinden sich in einem Alter, in dem – anders als bei älteren Menschen – insoweit jedes Jahr zählt.

• Und auch für die älteren Kinder gilt das oben gesagte: Lernschwierigkeiten oder -rückstände sind im Distanzunterricht nur schwer zu erkennen und können kurzfristig nicht behoben werden. Viele Kinder haben auch zu Hause keine Möglichkeit, in Ruhe zu lernen. Die Schule ist auch für diese älteren Kinder ein Ort der Sicherheit. Gerade für Kinder aus sozial ungünstigen familiären Strukturen übernehmen Lehrkräfte eine regulierende Wirkung.

• Die Tatsache, dass viele Fächer des im Curriculum vorgeschriebenen Lehrplans nur halbjährlich unterrichtet werden, sorgt hier für langfristige Bildungsrückstände, die schwer bis gar nicht aufzuholen sind.

• Ältere Kinder nähern sich mit zunehmendem Alter zwar in ihrer Infektiosität der von Erwachsenen an. Gleichzeitig können sie aber Abstände konsequent einhalten. Bei hohen Inzidenzen kann auch die MNB im Unterricht eine wichtige Rolle bei den Hygienemaßnahmen spielen. Pädagogische Aspekte sollten dabei stets berücksichtigt werden.

Deswegen fordern wir bei gleichbleibendem Infektionsgeschehen für die weiterführenden Schulen mindestens die Rückkehr zum Wechselmodell. Bei weiterhin sinkenden Infektionszahlen ist unterhalb einer Inzidenz von 50 auch an den weiterführenden Schulen der Präsenzunterricht in Klassenstärke unverzüglich wieder aufzunehmen.

Im Wechselmodell können – wenn das lokale Infektionsgeschehen dies erfordert – bei halber Schülerzahl im Klassenraum Abstände zuverlässig eingehalten werden. Da ältere Kinder aufgrund des Kurssystems an vielen weiterführenden Schulen oft nicht im Klassenverband unterrichtet werden können, kann so die Kontaktreduzierung mit mehr Sorgfalt geplant werden:

• Die Schülerinnen werden im Wechsel jeden zweiten Tag in der Schule in Präsenz unterrichtet und den jeweils anderen Tag erhalten sie Arbeitsaufträge für zu Hause.

• In Präsenz kann somit straffer Unterricht stattfinden, in Distanz findet die Wiederholung und Vertiefung des Stoffes statt. So werden Lücken im Lehrplan vermieden und alle Kinder haben den gleichen Lernstand.

Dieses Unterrichtskonzept muss für alle Schulen verbindlich vorgegeben werden, um allen Schülerinnen das gleiche Unterrichtsniveau zu garantieren. Die ganz unterschiedliche Ausgestaltung der aktuellen Vorgaben an den Schulen führt zu weiterer Bildungsungerechtigkeit und die daraus drohende Bildungskatastrophe ist nicht weiter hinnehmbar.

Wir fordern für die Förderschulen dieselbe Regelung wie für die regulären Schulen!

• Die Kinder in Förderschulen haben dieselbe Infektiosität wie die Kinder an den regulären Schulen. Das Vorurteil, dass Kinder mit Beeinträchtigungen sich nicht an die AHA-L Regelungen halten könnten, ist falsch. Die schwerst-mehrfach behinderten Kinder werden, in der Regel, nicht an den regulären Förderschulen unterrichtet.

Um den Kindern mit Anrecht auf sonderpädagogische Unterstützung gerecht werden zu können, bedarf es für diese Kinder besonderer Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Chancengleichheit und der Bildungsgerechtigkeit:

• Sozial-emotionales Lernen kann nur gemeinsam mit Kindern und in einer Gruppe erfolgen. Hierfür muss sichergestellt werden, dass diese spezielle Förderung nicht nur auf dem Papier erfolgt, sondern die Förderstunden, nach fast einem Jahr Pandemie, deutlich erhöht und angepasst werden.

• Der Sportunterricht muss insbesondere an Förderschulen unverzüglich wieder aufgenommen werden und für diese Kinder auch in der Halle stattfinden können, da viele Beeinträchtigungen den Sport in der Halle zwingend nötig machen. Gerade Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen sind auf dieses Bewegungsangebot angewiesen.

• In den weiterführenden Stufen der Förderschulen muss der Präsenzunterricht, analog zu den Grundschulen voll aufgenommen werden. Diese Jugendlichen hatten schon vor der Pandemie Schwierigkeiten, später in der Arbeitswelt einen Platz zu finden. Durch weiteren Ausfall des Präsenzunterrichts werden besonders diese Kinder zu den größten Verlierern gehören und unverhältnismäßig hart getroffen.

Wir fordern für alle Schülerinnen folgende zusätzlichen Lernangebote, um Lernrückstände aufzuholen und damit eine langfristige Bildungskatastrophe abzuwenden:

• Das Land Hessen muss, wie im letzten Sommer die Ferienakademie 2020, in allen Schulferien kostenlos und für alle Schülerinnen eine Ferienakademie bereitstellen, um Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, die versäumten Lerninhalte nachzuholen.

• Des Weiteren sollten zusätzliche Angebote geschaffen werden, um Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gezielte Förderung in den einzelnen Förderschwerpunkten zu ermöglichen. Wenn dies nicht an allen Schulen eingerichtet werden kann, muss das Land Hessen die Schülerbeförderung für Kinder mit Beeinträchtigungen sicherstellen.

• Für Schülerinnen der höheren Klassen erwarten wir, dass ein umfassendes Nachhilfeprogramm bereitgestellt wird, um nicht nur die Hauptfächer, sondern auch die Nebenfächer, die während der Pandemie vernachlässigt wurden, nachholen zu können.

Bitte stellen sie sich hinter die vom Hessischen Kultusministerium veröffentlichten Maßnahmenpläne, wie z.B. den Leitfaden „Schulbetrieb im Schuljahr 2020/2021”. Bitte stellen Sie bei allen Ihren Entscheidungen das Recht unserer Kinder und Jugendlichen auf Bildung und die Notwendigkeit eines sozialen Umgangs in der Schule in den Vordergrund. Wir meinen, dass dies angesichts sinkender Inzidenzen (Stand heute, 7. Februar 2021, weist Hessen eine 7-Tage-Inzidenz von 80,7 auf) dringend angezeigt ist.

Das nehmen wir zum Anlass, Sie um Unterstützung zu bitten, damit für die Schülerinnen und Schüler die Bildungskatastrophe ausbleibt.

Wir würden uns über ein konstruktives Gespräch mit ihnen freuen und verbleiben mit freundlichen Grüßen,
Landesgruppe Hessen

LautfürFamilien*