Unser Brief zum Fünfstufenplan an Vize-Ministerpräsident Dr. Joachim Stamp

Düsseldorf und Bielefeld, den 07.02.2021

Sehr geehrter Herr Dr. Stamp,

wir sind sehr froh, dass Sie und Ihr Fraktionsvorsitzender Herr Rasche konkrete Öffnungsszenarien skizzieren, die einen Ausstieg aus dem Lockdown ermöglichen. Neben kurzfristigen Lockerungsmaßnahmen gilt es jedoch auch, Grundrechtseingriffe rückgängig zu machen und ein gesellschaftliches Leben und Miteinander zu ermöglichen. Wir möchten Sie in diesen Bemühungen bestärken und hoffen, dass Sie auch den Ministerpräsidenten davon überzeugen können. Denn ein solcher „Ausstiegs-Plan“ würde endlich mehr Transparenz und Verlässlichkeit für Bürger:innen schaffen und damit auch die Akzeptanz der Bevölkerung erhalten.

Gleichwohl kommen wir hier gerne Ihrer Bitte nach, konstruktive Vorschläge für folgende Bereiche zu benennen und auf Ungereimtheiten hinzuweisen: Schul- und Kitabetrieb, Kontaktbeschränkungen sowie Sport- und Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.

Zuvor möchten wir noch einmal auf die aktuell besorgniserregende Situation von Kindern und Jugendlichen hinweisen. Seit fast einem Jahr befinden sie sich in einer absoluten Ausnahmesituation, die nachweislich schädigend für ihre geistige, seelische und körperliche Entwicklung ist. Den Kindern und Jugendlichen ist ihr kompletter Alltag genommen worden. Sämtliche Möglichkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse nach Aktivierung, Bewegung und sozialen Austausch wurden spätestens Ende 2020 gestrichen. Aber auch die Familien sind schon lange am Ende Ihrer Belastbarkeit angekommen. Dies führt zu massiver Überforderung und zu einem erheblichen Anstieg an Gewaltanwendung – quer durch alle Gesellschaftsschichten (https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-kinder-psychische-folgen-betreuung-shutdown-100.html). Die Zahlen der Kindeswohlgefährdungen und die Belastungskapazität von psychiatrischen (Kinder-) Kliniken sollten ebenfalls in Relation zu den Covid19-Inzidenzen gesetzt und mitberücksichtigt werden.

Die Inzidenzen in NRW sind mittlerweile stark gesunken, somit ist ein von zahlreichen Politikern formuliertes Ziel zur Öffnung von Schulen und Kitas so gut wie erreicht. Deshalb ist es jetzt unbedingt angezeigt, Wort zu halten, Schulen und KiTas wieder zu öffnen, den Sport für Kinder und Familien und weitere Freizeitaktivitäten wieder möglich zu machen und endlich die massiven Kontaktbeschränkungen zu lockern.

Das Virus hat sich durch die Mutation in seinen Grundeigenschaften nicht verändert, bisherige Studienergebnisse zeigen, dass Kinder nicht anfälliger für die Virusmutation sind als Erwachsene. Die bekannten Hygienemaßnahmen (AHAL Regeln) hemmen weiterhin die Übertragung des Virus und sind ausreichend, um Ansteckungen zu vermeiden, so dass nicht allein die Angst, die mitunter geschürt wird, eine Fortdauer der Schließungen der Schulen bzw. eines eingeschränkten Kita-Betrieb rechtfertigen kann.

(https://dgpi.de/stellungnahme-dgpi-dgkh-rolle-von-schulen-kitas-in-der-covid-19-pandemie/).

Der Verfassungsgerichtshof zeigte in seiner Entscheidung vom 29.01.2021 zu unserer Klage der Politik ihre Grenzen auf und stellte fest, dass „Unsicherheiten über die Ursachen der Ausbreitung des Coronavirus dürften nicht ohne Weiteres ‚im Zweifel‘ zu Lasten der Freiheits- und Teilhaberechte aufgelöst werden.“ (https://www.vgh.nrw.de/aktuelles/pressemitteilungen/2021/01_210129/index.php)

Die Schulen müssen am 15.02.21 geöffnet werden, um eine Bildungskatastrophe abzuwenden. Bildung und Kindheit können nicht nachgeholt werden!

Darüber hinaus wäre es aus unserer Sicht fatal, mit dem Schritt der „weiteren Öffnung“ der Kitas länger zu warten oder gar Bereiche außerhalb von Betreuung und Bildung vorher stärker einzubeziehen! Auch die Kleinsten unter uns haben ein Recht auf Teilhabe, auf Austausch, auf Interaktion, benötigen dringend Kontinuität, Struktur und Sicherheit. Auch die Eltern und Familien von Kitakindern sind im Spagat aus Homeoffice bzw. Job und Betreuung über ihre Grenzen gegangen. Auf die immens gestiegene Dunkelziffer von Gewalttaten innerhalb von Familien muss an dieser Stelle konkret hingewiesen werden: Auch die jüngsten und oftmals stillsten unter uns müssen so schnell wie möglich sozial integriert und begleitet werden. Kitas und Schulen bieten für viele Kinder und Jugendliche die einzigen verfügbaren Schutzräume und für deren Eltern die einzige Möglichkeit zur vertrauensvollen Entlastung.

(https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/corona-lockdown-wie-schwer-die-psychischen-folgen-wiegen-17182899.html)

Kinder selbst sind durch das Virus kaum gefährdet, erkranken meist nur leicht und geben das Virus seltener weiter als Erwachsene. Alle ihnen auferlegten Maßnahmen gelten nicht ihrem eigenen, sondern dem Schutz von Risikogruppen. Diese fremdnützige Beschränkung ihrer Grundrechte, die Kindern und Jugendliche über die Dauer der Maßnahmen einen nachhaltigen Schaden zufügt, ist nicht weiter hinnehmbar. Insbesondere wenn gleichzeitig über eine bevorzugte Behandlung von Geimpften diskutiert und wird. Eine „erzwungene Solidarität“ ist dem Grundgesetz fremd  (so Bundesverfassungsgerichtspräsident a.D.  Papier bei einer Podiumsdiskussion von Rechtgrün am 01.02.2021). Warum gilt dieser Grundsatz nicht auch für Kinder?

Die Aufhebung von Grundrechten zur Pandemiebekämpfung hat mit Augenmaß zu erfolgen. Der Landesverfassungsgerichtshof NRW, den Sie ja selbst zitieren, hat am 29.01.2021 ebenfalls festgestellt: „Die Abwägungsentscheidung des Verordnungsgebers müsse insbesondere auch erkennbar und plausibel vom Prinzip der größtmöglichen Schonung der Grundrechte der von den Freiheits- und Teilhabeeinschränkungen Betroffenen geleitet sein und die Ermessensspielräume auszuschöpfen.“ (https://www.vgh.nrw.de/aktuelles/pressemitteilungen/2021/01_210129/index.php)

Dieser Ermessensspielraum wird derzeit vor allem in den Lebensbereichen unserer Kinder und Jugendlichen nicht ausgenutzt.

Erzieher:innen und Lehrer:innen sind nicht stärker als andere Berufsgruppen gefährdet, schwer an Covid-19 zu erkranken oder gar daran zu sterben. Die von Gewerkschaften und Verbänden verbreitete Angst und Sorge, ist wissenschaftlich nicht haltbar und moralisch verwerflich. Nach Informationen des RKI haben „Lehrer in Schulen und das Personal in Kitas (…) bei Einhaltung von basalen Hygienemaßnahmen nur ein geringes Ansteckungsrisiko durch Kontakte zu potenziell infi-zierten Kindern (…).“ (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/05_21.pdf?__blob=publicationFile).  Aus diesem Grund werden Erzieher:innen und Lehrer:innen auch bei der Reihenfolge der Covid19-Impfungen nicht vorrangig berücksichtigt.

Ihre Überlegungen stellen Sie zu Recht das Ziel der Maßnahmen voran,  eine „Überforderung des Gesundheitssystems und insbesondere der Intensivmedizin zu vermeiden“. Die geplante Einführung dieser zwei Kriterien wird diesem Ziel sicher besser gerecht. Zudem ist der Schutz der vulnerablen Bevölkerunsgruppen aufgrund von Alter und Vorerkrankungen enorm wichtig und zu verbessern.

Die Wocheninzidenzen in NRW selbst sinken seit bereits mehreren Wochen, ebenso der Anteil der Intensivpatient:innen in den Krankenhäusern in NRW. Eine Überlastung der Intensivstationen ist nicht vorhanden. Auch die Gesundheitsämter in NRW äußern sich überwiegend so, dass eine umgehende Kontaktnachverfolgung möglich ist, auch bei hohen Inzidenzen.

Unsere konkreten Änderungsvorschläge zu Ihrem Fünf-Phasen-Modell lauten wie folgt:

Da die Inzidenzen bereits deutlich unter  100 in 7 Tagen liegen,  muss es möglich sein ab dem 15.02.2021, an den Grundschulen in die Vollpräsenz zu gehen, denn hier sind die Einbußen an Bildung und Teilhabe am größten. Den Kindern in der Erprobungsstufe, also in den Klassen 5 und 6 sollte ebenfalls ein möglichst vollständiger Präsenzunterricht angeboten werden.

In den KiTas wird der seit Januar eingeführte eingeschränkte Notbetrieb mit Minus 10 Stunden beibehalten, der aber allen Kindern offensteht. Auf den Appell, die Kinder nicht in die Betreuung zu bringen, sollte verzichtet werden.

Die Öffnung der Außensportanlagen für Kinder begrüßen wir ausdrücklich, muss aber auch für Jugendliche möglich sein. Letzteres gilt auch für Individualtraining und für Vereinstraining in festen Kohorten ohne Kontakt. Darüber hinaus halten wir es nach dem gegebenen Stand der Erkenntnisse ebenfalls für vertretbar, den Sportbetrieb in Hallen für Kinder und Jugendliche wieder aufzunehmen.

Für weitere Einzelheiten möchten wir auf den von uns erarbeiteten „Stufenplan für den Sport“ hinweisen, den wir am 19.01.2021 bereits im Sportausschuss des Landes vorstellen durften und den wir als Anlage beifügen

Generell sollten Kinder bis zu 14 Jahren möglichst wenige Kontaktbeschränkungen auferlegt werden, analog zu den skandinavischen Ländern, da es ihrer sozialen Entwicklung im Besonderen schadet. Bei Inzidenzen bis zu 75/7 Tage plädierenwir für ein Wechselmodell ab Klasse 7. Sämtliche Klassen der Jahrgangsstufen 1 bis 6 hingegen sollten im Vollbetrieb den Unterricht abhalten. Es ist sowohl weder zur Eindämmung der Pandemie sinnvoll, noch gesellschaftlich geboten, den Handel und körpernahe Dienstleistungen zu öffnen, gleichzeitig aber den Schüler:innen weiter ihre Rechte auf Bildung und Teilhabe vorzuenthalten. In den KiTas sollte eine Stundenreduzierung nur noch kitascharf, abhängig von der Personalsituation stattfinden. Ganz zwingend muss Jugendarbeit unter entsprechenden Hygienebedingungen wieder erfolgen. Sport muss – zumindest für die Jüngeren – auch im Bereich des Kontaktsports wieder möglich sein. Schwimmbäder müssen geöffnet werden, um hier Schul- und Vereinssport sowie Schwimmkurse, die so dringend für die vielen Nichtschwimmer benötigt werden, abhalten zu können. Musikschulen sollten für Einzelunterricht unter Hygieneauflagen öffnen.

Bei Inzidenzen bis zu 50/7 Tage sollten alle Schulen wieder im Vollbetrieb (Einschränkungen schulscharf bei besonderem Infektionsgeschehen ab den Klassen 7) öffnenöffnen. In den Kitas sollte ein uneingeschränkter Regelbetrieb angeboten werden. Sportangebote sollten generell stattfinden, sowie auch Freizeitparks/Indoorspielplätze unter Hygieneauflagen und begrenzter Besucherzahl geöffnet werden.

Eine „Corona-Bremse“ vorzusehen ist richtig. Jedoch fehlt es in Ihrem Stufenkonzept an zeitlichen Rahmenbedingungen und es wäre unseres Erachtens wichtig, dass daraus hervorgeht, dass erneute Schul- und Kitaschließungen ultima-ratio sein müssen. Der Umfang der Anspruchsinhaber:innen für die Notbetreuung ist zu eng gefasst. Zudem muss bei nahezu vollständigen Schließung dafür gesorgt sein, dass die Eltern vollen Lohnausgleich für die Betreuung erhalten. Die Berücksichtigung von lokalen Besonderheiten begrüßen wir.

Für die Verhandlungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder in der kommenden Woche, hat das Landesverfassungsgericht NRW die Mahnung mit auf den Weg gegeben, dass den dort gefassten Beschlüssen keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt und „beschlossene Maßnahmen stets den konkreten tatsächlichen Verhältnissen im Land Nordrhein-Westfalen hinreichend Rechnung tragen müssen“ (https://www.vgh.nrw.de/aktuelles/pressemitteilungen/2021/01_210129/index.php).

Insoweit appellieren wir an Sie als Familienminister, aber auch als stellvertretenden Ministerpräsidenten, sich nicht von der durch die Medien und einige Bundespolitiker  geschürten Sorge und Angst wegen der Virusmutationen von Ihrem Weg zurück zu einem halbwegs normalen Leben insbesondere für die Kinder und Jugendlichen abbringen zu lassen.

Vielen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Nicole Reese, Nina Meseke, Stefanie Seifert und Nele Flüchter für #Lautfuerfamilien