Interview mit Prof. Dr. Tobias Hecker: Auswirkungen der Corona-Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen

Bielefeld, 11. Mai 2021

#lautfürFamilien hat mit dem Experten Prof. Dr. Tobias Hecker, klinischer Kinder- und Jugendpsychologe und – psychotherapeut an der Universität Bielefeld über die Auswirkungen und Folgen der Coronamaßnahmen auf Kinder und Jugendliche gesprochen. Das Interview führte Nicole Reese.

LFF: Herr Hecker, zur Zeit wird viel über die Folgen für Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie diskutiert. Worin sehen Sie die größte Gefahr durch geschlossene Schulen und Kitas?

Prof. Dr. Hecker: Kinder und Jugendliche sind seit über einem Jahr durch Schul- und KiTa-Schließungen massiv in ihrem alltäglichen Leben beschränkt. Für die Kinder und Jugendlichen fällt seit über einem Jahr ein Großteil ihrer Lebensräume weg. Das hat spürbare Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Die Kinder brauchen Bildungseinrichtungen für eine Tagesstruktur und als sozialen Lernort. Sorgen mache ich mir aber vor allem gerade um die Kinder, die wir Kinder- und Jugendpsychotherapeuten aktuell nicht zu Gesicht bekommen. Aktuell sehen wir beispielsweise immer weniger Kinder nach sexuellem Missbrauch, weil sie schlichtweg nicht mehr an uns überwiesen werden. Lehrer:innen und Erzieher:innen sind oftmals diejenigen, denen auffällt, dass mit den Kindern etwas nicht stimmt und die dann gezielt Maßnahmen ergreifen können. Diese Form der sozialen Kontrolle fällt bei Schließungen ersatzlos weg. Zudem sehen wir viel weniger Kinder aus Brennpunktvierteln, weil die Schulsozialarbeiter weniger Kontakt zu den Kindern haben und sie so ebenfalls nicht überweisen.

LFF: Wie stehen Sie zur Abwägung zwischen Schutz vor Corona und Schutz vor den Folgen flächendeckender Schließungen im Schul- und KiTa-Bereich?

Gesundheitsschutz ist wichtig, aber neben der physischen Gesundheit ist auch die psychische Gesundheit ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen schwer an COVID-19 zu erkranken, können die Kinder- und Jugendmediziner besser beurteilen als ich. Ich verweise hier auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (https://dgpi.de/stellungnahme-dgpi-dgkh-hospitalisierung-und-sterblichkeit-von-covid-19-bei-kindern-in-deutschland-18-04-2021/). Neueste Auswertungen der RKI-Meldedaten durch das Gesundheitsamt Frankfurt am Main zeigen zudem, dass sich Kinder und Jugendliche in der Dritten Welle keineswegs häufiger als Erwachsene infizieren. Die höheren Inzidenzzahlen in den Altersgruppen hängen aufgrund der Testpflicht vielmehr mit einer größeren Dunkelziffer bei Erwachsenen zusammen (https://www.laekh.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2021/Aktuelles_2021_05_06_HAEBL_06_2021_Heudorf_Gottschalk.pdf).

Aber Kinder und Jugendliche reagieren auf die Pandemie auch mit psychischen Belastungen. Die Copsy-Studie hat gezeigt, dass fast jedes dritte Kind nach einem Jahr Pandemie psychische Auffälligkeiten zeigt. Vor der Pandemie war es nur jedes 5. Kind. Vor allem Sorgen und Ängste, aber auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden haben zugenommen (https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html).

In der Auswertung der Situation an Schulen kommt selbst das RKI zu dem Schluss, dass die Ausbrüche an Schulen bisher vergleichsweise wenige, kleine und kontrollierbare waren (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/13_21.pdf?__blob=publicationFile; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Praevention-Schulen.pdf?__blob=publicationFile. Anders als ich befürwortet das RKI Schulschließungen nur deshalb, weil es das Ziel hat alle Infektionen zu unterbinden. Aber mit Maßnahmen aus der S3 Leitlinie Schulen in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie könnten Schulen auch unter Pandemiebedingungen relativ sicher offengehalten und damit Kindern und Jugendlichen ein Stück ihrer Normalität wiedergeben werden (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-076.html). Auch die Auswertung des Gesundheitsamts Frankfurt kommt zu dem Schluss, dass Schulen keinen Risikobereich darstellen, da es wirksame Hygiene-, Test- und Kontaktmanagementstrategien gibt (https://www.laekh.de/fileadmin/user_upload/Aktuelles/2021/Aktuelles_2021_05_06_HAEBL_06_2021_Heudorf_Gottschalk.pdf).

Pauschales Schließen ist aus meiner Sicht keine Abwägung beider Standpunkte, sondern lässt die Gefahren von psychischen Auswirkungen unverhältnismäßig ansteigen.

LFF: Wie stehen Sie zu den Coronamaßnahmen für Kinder und Jugendliche?

Natürlich unterstütze ich Forderungen und Maßnahmen, die dabei helfen, die Pandemie zu bekämpfen. Aber Pandemiebekämpfung darf nicht in unverhältnismäßig zu Lasten der Kinder und Jugendlichen gehen. Kinder sind seit über einem Jahr massiven Maßnahmen ausgesetzt. Oftmals sind die Beschränkungen bei den Erwachsenen um ein Vielfaches moderater. In der Schule sind Schüler:innen nur in halber Klassenstärke im Wechselunterricht, waschen regelmäßig Hände, tragen MNB, halten Abstand und die Räume werden gelüftet. Seit April gibt es in NRW zusätzlich eine Testpflicht in Schulen. Trotzdem werden die Schulen ab einem willkürlich gewählten Inzidenzwert von 165 geschlossen.

Eine Studie der COVID-19 Data Analysis Group der LMU München zeigt zudem, dass geöffnete Schulen sicherer sind als geschlossene: Da Kinder und Jugendliche sich eher im häuslichen Bereich anstecken, kann bei Präsenz- oder Wechselunterricht mit Testkonzept durch die Aufdeckung der Dunkelziffer sogar ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung der Pandemie sein (https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_14.pdf). Zudem zeigen die Auswertungen der COVID-19 Data Analysis Group, dass der Arbeitsplatz eine viel zentralere Rolle spielt, insbesondere, wenn es darum geht andere Menschen in anderen Kontexten anzustecken (https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_12.pdf). Am Arbeitsplatz gibt es diese strengen Maßnahmen jedoch nicht. Kinder tragen also eine viel größere Last als viele Erwachsene.

LFF: Was wünschen Sie sich für das weitere Vorgehen in der Pandemie bezogen auf die Kinder und Jugendlichen?

Um die Auswirkungen der Schließung der Bildungseinrichtungen abzufedern, müssten psychosoziale und therapeutische Angebote erweitert werden. Zusätzlich ist es jedoch sowohl aus klinischer Sicht als auch aus ökonomischer Sicht geboten, Kinder und Jugendliche vor psychischen Auswirkungen zu bewahren. Prävention ist gefordert und hier spielen Bildungseinrichtungen wie KITAS und Schulen eine zentrale Rolle, damit Kinder mit Unterstützungsbedarf auffallen und zielgerichtet überwiesen werden können. Problematisch aus psychologischer Sicht ist auch, dass medial und in den Äußerung politischer Entscheidungsträger:innen oft vermittelt wird, dass Kinder und Jugendliche in besonderem Maße zur Verbreitung des Virus beitragen und somit eine Gefahr für Eltern, Lehrer:innen und Erzieher:innen darstellen. Obwohl dies jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrt. Diese Stigmatisierung macht auch etwas mit der Psyche von Kindern, Jugendlichen und Familien: Es erhöht den Stress, vermittelt Ängste und Schuldgefühle, kurzum es zerstört die psychische Gesundheit. Das muss unbedingt aufhören.

Foto: Universität Bielefeld

Herr Prof. Dr. Hecker stützt seine Aussagen u.a. auch auf die nachfolgend angegebenen Quellen:

https://www.jmwiarda.de/2021/04/28/die-datenerhebungskatastrophe/