Offener Brief zur Wiederzulassung familiärer Resozialisierungsprozesse

NRW, den 16.05.2021

Sehr geehrter Herr Justizminister Biesenbach,  
sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Laumann, 

wir, die Initiative #Laut für Familien, setzen uns für die Rechte und Bedürfnisse von Kindern, Eltern und Familien während und auch für die Zeit nach der Corona-Krise ein. 
Als Eltern unterschiedlichster Professionen engagieren wir uns ehrenamtlich, unabhängig und überparteilich.
Neben dem Einsatz für eine differenzierte Öffnung von Schulen und Kitas, um das Recht auf Bildung, Kinderschutz, Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen, unterstützen wir vor allem Familien, Eltern und Kinder in ohnehin schon herausfordernden Lebenssituationen.
Wir setzen uns für Kinder ein, die unverschuldet besonderen Hindernissen gegenüber stehen, die eine gesunde körperliche, vor allem aber psychische, Entwicklung erschweren. 

Kinder von inhaftierten Elternteilen sind zumeist bereits in sehr jungen Jahren über das normale und gesunde Maß hinaus gefordert.  Plötzliche Beziehungsabbrüche, Verlust regelmäßiger Kontakte und fehlende Strukturen führen zu fehlender Sicherheit und machen eine Eltern-Kind-Bindung, den Grundstein für eine gesunde Entwicklung, unmöglich. 

Angst, Betroffenheit und Enttäuschung sind häufige Reaktionen von Kindern auf die Inhaftierung von Elternteilen, wodurch die Entwicklung von aggressivem Verhalten, Leistungsabfall in der Schule, Schlafstörungen und Depressionen begünstigt werden können.(1) Viele Kinder schämen sich, ziehen sich selbst zurück oder werden von ihren Freunden gemieden. Sie werden plötzlich nicht mehr zum Spielen eingeladen, dürfen nicht zum Kindergeburtstag kommen. Sie sind mit Ablehnung konfrontiert, werden ignoriert, gemieden und stigmatisiert. 
Wir begrüßen daher sehr die Etablierung „familienfreundlicher Strukturen“ auch im Justizvollzug. 
Im offenen Vollzug besteht so für Inhaftierte die Möglichkeit, die Beziehungen und Bindungen zu ihren Kindern regelmäßig zu stärken. Die Besuche in der familiären Wohnung stellen ein wesentliches Element im Kontext der Resozialisierung dar und sind unseres Erachtens im Rahmen der Entlassungsvorbereitung unabdingbar. 

Mit Inkrafttreten der bundesweiten Notbremse wurden vollzugsöffnende Maßnahmen nun erneut, zunächst befristet bis zum 30.05.2021, eingeschränkt: “Selbständige unbegleitete vollzugsöffnende Maßnahmen sollen daher ab sofort grundsätzlich nicht mehr zugelassen werden. Ausnahmen sollen lediglich gemacht werden, wenn diese im Rahmen der Entlassungsvorbereitung zwingend erforderlich sind oder sie zur Sicherstellung eines Vollzuges gemäß § 66 c StGB (Gefangene mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherheitsverwahrung) dienen. Im offenen Vollzug bestehen Ausnahmen bei der Gewährung von Freigang in Ausübung der Arbeitspflicht und bei der stundenweise Gewährung von „Einkaufsausgängen“. Begleitete vollzugöffnende Maßnahmen bleiben weiterhin möglich. Die Lockerungsentscheidung im Einzelfall trifft die jeweilige Justizvollzugsanstalt unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse vor Ort (…).”(2)

Für Kinder und Eltern bedeutet dies erneut das abrupte Ende zuvor gelebter Regelmäßigkeiten. Kindern werden zentrale Bezugspersonen entrissen, ihr Recht auf Umgang mit den Eltern wird ignoriert, ein persönlicher (Körper-) Kontakt  ist nicht mehr möglich, und auch für die Inhaftierten bedeutet diese erneute Einschränkung den Wegfall eines essentiellen Verstärkers für eine erfolgreiche Resozialisierung und damit letztendlich auch eine dauerhafte Straffreiheit. 

“Ferner haben inhaftierte Eltern nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sowohl das Recht als auch die Pflicht, für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen.(3) Selbst bei einer Trennung besteht ein Recht auf Umgang, damit sich Eltern über das körperliche und geistige Befinden der Kinder fortlaufend persönlich informieren, die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten und dem Liebesbedürfnis beider Seiten Rechnung tragen können.(4)Pflege und Erziehung setzen Nähe und Kontakt zwischen Eltern und Kindern voraus, sodass die Inhaftierung einen erheblichen Eingriff in das Erziehungsrecht bedeutet (umfassend Fährmann, S. 218 ff. m. w. N.).(5)

Wir fragen uns: 

  • Wurden sämtliche Schutzmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Besuchs- und Ausgangsregelungen unternommen, um die elementaren Strukturen hinsichtlich kontinuierlicher Kontakte zur Familie und somit die Möglichkeit der sozial-familiären Rückkehr nach Haftentlassung zu unterstützen? 
  • Wurde den Inhaftierten ein aktuelles Impfangebot gemacht, um die persönlichen Kontakte zur Außenwelt schnellstmöglich wieder zuzulassen und gleichzeitig einen angemessenen Infektionsschutz hinsichtlich des Risikos eines Corona-Ausbruches in den Einrichtungen zu minimieren? Ein zeitnahes Impfangebot, insbesondere im (halb-) offenen Vollzug, in dem die Inhaftierten weiterhin Arbeitsausgang haben, hätte Vorteile hinsichtlich der Reduzierung des Infektionsrisikos.
  • Sollte bisher ein internes Impfangebot ausgeblieben sein: Wann und wie wird den Inhaftierten nach Aufhebung der allgemeinen Impfpriorisierung ein Impfangebot unterbreitet?
  • Was spricht gegen eine Impf- und Teststrategie für Inhaftierte, um die Resozialisierung (sozial-familiär, die Wohnungs- und Arbeitssuche) vollumfänglich wieder aufzunehmen?

Wir möchten konstruktiv sein und erlauben uns folgende Ideen zu skizzieren: 

  • Sofortiges Impfangebot für alle Inhaftierten mit einem, sofern aus medizinischer Sicht für den Inhaftierten unbedenklich, frei verfügbaren Impfstoff (AstraZeneca oder Johnson & Johnson) 
  • Besuche im Vollzug sind – sofern strafrechtlich gestattet – im üblichem Umfang mit Kindern (sofern der Inhaftierte erziehungsberechtigt ist) nach Testung aller Beteiligten gemäß Corona-Test-und-Quarantäneverordnung erlaubt
    • ausgenommen von der Testerfordernis sind vollständig Geimpfte, Genesene und Kinder bis zum Schuleintritt
  • Während des Besuchs sind zur Begrüßung und Verabschiedung körperlicher Kontakt zwischen Kindern und Gefangenen erlaubt
  • Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Mund-Nasen-Bedeckung aller am Besuch Beteiligten auf dem Gelände und in den Räumlichkeiten der JVA
    • ausgenommen von der Maskenpflicht sind Kinder, die das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet haben
  • Hausbesuche und Übernachtungen in der familiären Wohnung sind für vollständig Geimpfte und Genesene vollumfänglich möglich; ansonsten ist ein Test unmittelbar nach Rückkehr der Inhaftierten erforderlich

Die Umsetzung einer zeitnahen Test- und Impfstrategie für Inhaftierte kann ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Resozialisierung sein.

Die familiären Strukturen prägen die erfolgreiche Rückkehr in das soziale Umfeld und leisten einen unersetzbaren Faktor für eine erfolgreiche Resozialisierung und dienen damit auch der Rückfallprophylaxe nach Haftentlassung.

Derzeit werden viele Inhaftierte, insbesondere aus dem geschlossenen Vollzug, frühzeitig entlassen – dies ist eine unerwartete Chance, birgt aber aufgrund der zuvor unterbrochenen sozialen Kontakte zur Familie auch ein erhöhtes Rückfallrisiko.

Zum Prozess des Haftentlassmanagements gehört aus unserer Sicht eine umfangreiche und umfassende Vorbereitung auf die Rückkehr in das sozial-gesellschaftliche Leben. Insbesondere unter den erschwerten Bedingungen während der Corona-Pandemie benötigen die Inhaftierten eine sichere Vorbereitung durch Fachkräfte, stabile Strukturen durch regelmäßige tagesstrukturierende Aktivitäten und die (moralische) Unterstützung ihres familiären Umfeldes.

Wir freuen uns über Antworten und stehen Ihnen gern auch für ein persönliches Gespräch zur Verfügung. 

Vielen Dank vorab. 

 

Mit freundlichen Grüßen

Nina Meseke, Judith Bachmann und Svenja Streich für #Laut für Familien 

Fußnoten

[1] z. B. Murray/Murray; Parental incarceration, attachment and child psychopathology

[3] BVerfGE 121, 69 (92)

[4] BVerfG Rn. 19