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Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss geschützt werden!
Februar 2021
Eine Gruppe von Psycholog:innen, Kinder- und Jugendlichenpsychiater:innen hat sich mit einem eindringlichen Appell an die Bundesregierung gewandt.
Offener Brief von Psycholog:innen, Kinder- & Jugendlichenpsycho-therapeut:innen und Kinder- & Jugendlichenpsychiater:innen.
Aktuell unterliegen Kinder und Jugendliche in höchstem Maße den Kontaktbeschränkungen im Rahmen der COVID-19 Pandemie. Schulen und Kindertagesstätten sind weitestgehend geschlossen, Freizeiteinrichtungen im Rahmen von Sport und Kultur bereits seit November 2020 nicht zugänglich. Auch im privaten Bereich können kaum Kontakte zu Gleichaltrigen aufrechterhalten werden.
Welche Auswirkungen haben diese Einschränkungen auf Kinder und Jugendliche?
In unserem beruflichen Alltag beobachten wir seit Pandemiebeginn einen (1) Anstieg psychischer Belastung bei Kindern und Jugendlichen und (2) Schwierigkeiten in der Versorgung1:
(1) Bundeslandübergreifend zeigen sich in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen
Versorgung vermehrt Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen,
Essstörungen, und Substanzmissbrauch. Zudem wird ein Anstieg von Patient:innen berichtet, die aufgrund von akuter Suizidalität/Krisen oder nach häuslicher Eskalation kinder- und jugendpsychiatrisch versorgt werden müssen2,3. Eine aktuelle Befragungdes Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten e.V. zeigt bei Betrachtung von geschätzt mehr als 10.000 Kindern und Jugendlichen ein alarmierendes Bild von verstärkten Ängsten, Spannungen im häuslichen Umfeld, häuslicher Gewalt, Leistungsabfall und Versagensängsten, stark erhöhtem Medienkonsum und Gewichtszunahme. Zugleich fallen gesundheitsrelevante Ressourcen wie Sozialkontakte zu Gleichaltrigen, Musik oder Sport im Verein, aber auch Angebote der Jugendhilfe weg, was zu massiven psychosozialen Beeinträchtigungen bis hin zu psychischen Störungen führt4,5.
(2) In der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung hat die aktuelle Entwicklung zunehmend zur Folge, dass reguläre Behandlungen zugunsten von Kriseninterventionen aufgeschoben werden oder ausfallen müssen. Der Fokus liegt auf stark belasteten Kindern und Jugendlichen, so dass viele Patient:innen nicht hinreichend versorgt werden.
Die Probleme zeigen sich über alle Altersgruppen hinweg:
• Eltern von Kleinkindern berichten vermehrt von Trennungsängsten beim Übergang in die Notbetreuung. Im häuslichen Rahmen schildern sie Verhaltensauffälligkeiten. Die Kinder zeigen unkontrollierte Wutausbrüche, Aggressionen und Schlafprobleme. Gegenwärtig erscheinen uns die vorgestellten Patient:innen jünger als üblicherweise.
• Insbesondere bei Schulkindern, die im Sommer bedeutsame Transitionen wie die Einschulung oder den Wechsel zur weiterführenden Schule bewältigt haben, ist derzeit die Häufung von Schulängsten auffällig. Bereits vor Pandemiebeginn bestehende Schulängste verstärken sich durch den unregelmäßigen Schulbesuch.
• Die Adoleszenten zeigen sich ebenso deutlich belastet. Besonders die Altersgruppe der jüngeren Adoleszenten muss als stark gefährdet hinsichtlich missbräuchlicher Medien und Internetnutzung und der Entwicklung von Essstörungen angesehen werden4. Für sie gibt es durchgehend keine Notbetreuungsangebote. Oft werden sie sich selbst überlassen, zumal sie in einem Lebensalter sind, in dem sie um Autonomie ringen und sich von den Eltern oft nicht leicht anleiten lassen.
Unsere Beobachtungen decken sich mit wissenschaftlichen Befunden6,7,8,9 und auch die Junge Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin berichtet in ihrem kürzlich erschienenen Appell10 von einer deutlich gestiegenen Anzahl von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen
sowie psychiatrischen Notfällen, die derzeit in kinder- und jugendmedizinischen Einrichtungen vorstellig werden.
Die negativen Auswirkungen der Pandemie kommen nicht überraschend. Schon im Mai 2020 wiesen die Deutsche Gesellschaft für Psychologie und die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung auf die Gefahren von Schulschließungen für die gesunde Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen hin11. Umso schwerer wiegt es, dass in den politischen Entscheidungen die Bedürfnisse und Rechte von Kindern und Jugendlichen kaum berücksichtigt wurden.
Wie können Kinder und Jugendliche unterstützt werden?
Die Bedürfnisse und die Perspektive von Kindern und Jugendlichen müssen in den Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung mit hoher Priorität miteinbezogen werden, insbesondere bei der Abwägung von Prioritäten, Risiken und Kollateralschäden. Der Zeitraum eines Jahres im Leben
eines Kindes oder eines Jugendlichen ist sehr lang, potentielle Nebenwirkungen und negative Auswirkungen der bisherigen Maßnahmen sind bereits deutlich spürbar.
Wir fordern:
• Ein Gremium, das sich explizit mit der vulnerablen Gruppe der Kinder und Jugendlichen befasst und ihre Stimmen direkt miteinbezieht. Die Schülervertretungen zeigen sich in diesem
Punkt gut organisiert und eigeninitiativ12.
• Sichere Öffnung von Kitas und Schulen entsprechend der aktualisierten Vorschläge der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene13,14. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil sich das Ende der Pandemie noch nicht abzeichnet. Hier braucht es jetzt dringend Konzepte, wie der Schulbetrieb
wieder aufgenommen werden kann.
• Eine personelle Verstärkung in der Jugendhilfe und in den Jugendämtern. Modellhaft kann das Jugendamt des Kreises Offenbach herangezogen werden, wo eine Task Force eingerichtet wurde, um Familien enger zu begleiten und Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen zu verringern15.
• Das Ermöglichen von pandemiegerechten Freizeitangeboten (z.B. Sportkurse, Jugendtreffs, die im Freien stattfinden).
• Förderung und Ausbau einzel- und gruppenpädagogischer Angebote zur Bearbeitung der pandemiebedingten psychosozialen Belastungen und Prävention vor weiterer Chronifizierung.
• Einen niedrigschwelligen Zugang zu unterstützenden, langfristig angesetzten psychosozialen Angeboten, die nach Bedarf auch aufsuchend stattfinden.
Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist ein fundamentaler Baustein der Zukunft unserer Gesellschaft. Die gegenwärtig erhebliche Not dieser Generation muss endlich Gehör finden!
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Der offene Brief wird auch unterstützt vom Kompetenznetz der Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen in Westfalen-Lippe e.V. (kkjpwl.de) und von Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeuten Ostwestfalen-Lippe KJP-OWL e.V. (kjp-owl.de).
* Der offene Brief kann auch weiterhin unterzeichnet werden. Hierfür genügt eine E-Mail mit Betreff Offener Brief KJP unter Angabe von Name, ggf. Titel, Wohnort, ggf. Arbeitsstelle und Funktion an info@offener-brief-kiju.de*
Fußnoten:
1 Dieser offene Brief spiegelt unsere persönlichen Erfahrungen wider und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
2 https://www.aerztezeitung.de/Politik/KBV-Chef-Lockdown-belastet-Kinder-416693.html
3 https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Lockdown-Folgen-Deutlich-mehr-junge-Augsburger-haben-psychische-Problemeid58939631.html
4 https://bvvp.de/wp-content/uploads/2021/01/20210127-bvvp-PM_Folgerungen-aus-KJP_Befragung-des-bvvp_public.pdf
5 https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/22938301_Immer-mehr-Kinder-wegen-Corona-in-psychiatrischer-Behandlung.html
6 Panda, P.K., Gupta, J., Chowdhury, S.R. et al. (2020). Psychological and Behavioral Impact of Lockdown and Quarantine Measures for COVID-19 Pandemic on Children, Adolescents and Caregivers: A Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of Tropical Pediatrics, online first. doi: 10.1093/tropej/fmaa122
7 Schlack, R., Neuperdt, L., Hölling, H. et al. (2020). Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Journal of Health Monitoring, 5 (4), 23-33. doi: 10.25646/7173
8 Fegert, J. M., Vitiello, B., Plener, P. L., & Clemens, V. (2020). Challenges and burden of the Coronavirus 2019 (COVID-19) pandemic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality. Child and adolescent psychiatry and mental health, 14, 20. doi: 10.1186/s13034-020-00329-3
9 Golberstein, E., Wen, H., & Miller, B. F. (2020). Coronavirus disease 2019 (COVID-19) and mental health for children and adolescents. JAMA pediatrics, 174(9), 819-820.doi:10.1001/jamapediatrics.2020.1456
10 https://www.dgkj.de/die-gesellschaft/aufgaben-und-angebote/appell-der-jungen-dgkj
11 https://www.dgps.de/index.phpid=2000498&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1971&cHash=05901160461ac6ef6dd789b22adafc48
12 https://lsaberlin.de/wp-content/uploads/2021/01/210116_LSA_PP-Corona_Kommunikation1.pdf
13 https://dgpi.de/aktualisierte-stellungnahme-der-dgpi-und-der-dgkh-zur-rolle-von-schulen-und-kitas-in-der-covid-19-pandemiestand-18-01-2021/
14 https://dgpi.de/stellungnahme-dgpi-dgkh-kinder-in-der-covid-19-pandemie-2020-02-05/
15 https://www.kreis-offenbach.de/Kurzmen%C3%BC/Startseite/Jugendamt-verst%C3%A4rkt-Kontakte-zu-Eltern.php?object=tx,2896.5&ModID=7&FID=2896.9872.1
Unterzeichnet von Mitarbeiter:innen in Kinder- und Jugendpsychiatrien, psychotherapeutischen (Hochschul-) Ambulanzen für Kinder und Jugendliche und in (schul-)psychologischen Beratungs- und Frühförderstellen, Fachberater:innen und Kinder- und Jugendlichentherapeut:innen (angestellt oder in eigener
Praxis), die wir derzeit tagtäglich die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie für Kinder und Jugendliche miterleben.
Unterzeichner.: 376 Psycholog:innen, Kinder- & Jugendlichenpsycho-therapeut:innen und Kinder- & Jugendlichenpsychiater:innen
Stand 03.03.2021
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