Nicht schon wieder! Oder: Schulstart mit Hindernissen

Düsseldorf, 19. Februar 2021

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,
Sehr geehrte Ministerin Gebauer,
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Richter,
Sehr geehrter Herr Dr. Stamp,

Kinder- und Jugendärzte in Essen schlagen Alarm: Sie machen sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer kleinen Patienten. Dieser Brief ist nicht der erste dieser Art; es gab einen offenen Brief von Psycholog:innen, von vielen Kinderärzt:innn, dem Pisa-Koordinator Herrn Schleicher und vielen mehr. Es gibt die Stellungnahme der DGPI und vor allem gibt es erschütternde Berichte im Fernsehen. All dies scheint aber nicht auszureichen.

Mittlerweile sind die Schüler in NRW nun schon seit dem 14. Dezember (also nunmehr 8 Wochen) wieder Zuhause. Die „unterrichtsfreie Zeit“ vor und nach den Weihnachtsferien ist nicht, wie von Ihnen versprochen, nachgeholt worden. Die Bildungsgarantie wurde außer Kraft gesetzt. Nun sollen ab nächster Woche die Grundschüler:innen im Wechselmodell den Präsenzunterricht wieder aufnehmen.

Wir verstehen, dass dies aus politischen Gründen als Einstiegsmodell gewählt wurde, möchten aber trotzdem darauf hinweisen, dass das Wechselmodell zu einer stärkeren Durchmischung der Kohorten führt als ein vollwertiges Präsenzmodell, da die Kinder in der Notbetreuung dann klassenübergreifend aufeinandertreffen. Folgt man den Richtlinien des Infektionsschutzes, ist eine Durchmischung der Kohorten aber explizit zu vermeiden.

Das von Ihnen geplante Wechselmodell hat aber noch weitere erhebliche Defizite. Einerseits ist es zwar zu begrüßen, dass den Schulen mehr Freiheit gegeben wurde, doch dies führt, abhängig von Engagement, Raum- und Personalkapazitäten, zu ganz erheblichen Unterschieden und damit zu noch mehr Bildungsungerechtigkeit. An ein Aufholen des versäumten Stoffes ist gar nicht zu denken.

Wir fordern Sie daher auf, zeitnah zu einem regelhaften Präsenzunterricht zurückzukehren und den Wünschen der Eltern nachzukommen, die sich in einer Blitzumfrage der Landeselternschaft der Grundschulen mit einer deutlichen Mehrheit (ca. 80%) für Präsenzunterricht ausgesprochen haben. Der Wunsch nach Vollpräsenz kommt übrigens auch aus den Schulen. Denn die Organisation der gleichzeitigen Betreuung und Beschulung führt zu so erheblichen Problemen, dass auch die Schulen ein adäquates Wechselmodell gar nicht anbieten können. Und wenn Kinder im Ergebnis zwei Mal die Woche für drei Stunden in die Schule kommen, kann man dies nur als Mogelpackung ansehen.

Noch dramatischer sieht es für die Schüler:innen der weiterführenden Schulen aus. Hier fordern wir eine zeitnahe echte Perspektive für Präsenzunterricht; nicht den Satz „als erstes öffnen wir die Schulen“. Diese Perspektivlosigkeit macht den Schüler:innen und Eltern extrem zu schaffen, da überhaupt keine Aussagen darüber existieren, wann was kommt. Nachweislich ist das Fehlen von Präsenzunterricht schädlich für die Entwicklung von Kindern, dies gilt aber auch für Jugendliche. Nicht ohne Grund ist in den Kinder- und Jugendpsychatrien zurzeit die „Hölle los“ https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-kinder-psychische-folgen-betreuung-shutdown-100.html. Sämtliche Möglichkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse nach Struktur, Aktivierung, Bewegung und sozialen Kontakten, nach Austausch, Optionen zur Kompensation, der auf Grund der sonstigen Einschränkungen bereits entstandenen Belastungen werden Kindern und Jugendlichen versagt. Vielen Schüler:innen fehlt auch das regelmäßige warme Mittagessen, auf dass sie durch den fehlenden Schulbesuch verzichten müssen. Auch an vielen Grundschulen gibt es in der Notbetreuung keine warme Mahlzeit.

Wann soll der Präsenzunterricht für alle Schüler:innen beginnen? Gibt es ein festes Szenario, ab welchen Inzidenzwerten dieser aufgenommen wird und in welcher Ausgestaltung?

Es gibt ein festgeschriebenes Grundrecht auf Bildung, dem im Distanzunterricht nicht ausreichend nachgekommen werden kann. Dieses Recht auf Bildung ist unabhängig davon, ob der Inzidenzwert von 50 erreicht wird. All dies stützt auch der Beschluss des Verfassungsgerichtshofs NRW vom 29. Januar 2021 zur Klage auf Präsenzunterricht unserer Initiative. Dort heißt es, „dass die Landesregierung die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Untersagung von Präsenzunterricht fortlaufend überprüfen müsse. Zudem bedarf die Zumutung konkreter Einschränkungen umso mehr der grundrechtssensiblen Rechtfertigung, je unklarer der Beitrag der untersagten Tätigkeit zur Verbreitung des Coronavirus sei und je länger diese Einschränkung dauere.“ https://www.vgh.nrw.de/aktuelles/pressemitteilungen/2021/01_210129/index.php

Für Grundschüler:innen soll, nach unserem Kenntnisstand, ab nächster Woche auch am Platz die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung (MNB) eingeführt werden. Diese Information haben wir von der DGUV, mit der wir diese Woche telefoniert haben. Sollten Sie dies tatsächlich umsetzen wollen, möchten wir Sie darauf hinweisen, dass es von mehreren Verbänden der Kinderärzte ganz klare Empfehlungen dagegen gibt. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) schreibt: „Die SARS-CoV-2 Pandemie hat das Leben von Kindern in Deutschland vielfältig ungünstig beeinflusst (Ravens-Sieberer 2020) und bei Kindern in schwierigen psychosozialen Bedingungen steigen Belastungen, Kindeswohlgefährdungen und daher auch vermutlich psychische Langzeitfolgen. Unbestritten ist, dass Kinder unterschiedlicher Altersgruppen das Tragen der Maske als unangenehm, störend und subjektiv das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit einschränkend erleben können. Das Tragen der Maske z.B. auch im Unterricht ist eine Belastung, die respektiert und anerkannt werden muss (Spitzer 2020). „…“ Weiter könnte eine fehlerhafte Verwendung von Masken der Verbreitung des Virus eher Vorschub leisten durch zusätzliche Kontamination oder fälschlich angenommene Sicherheit. Auch sollten die Kinder nicht durch altersabhängig überlange Tragzeiten überfordert werden.“ https://dgpi.de/covid19-masken-stand-10-11-2020/

Deshalb empfehlen DGPI, bvkj, DGKJ, GPP und SGKJ gemeinsam: „Kinder ab 6 Jahren können optional eine Maske tragen, aber sie sollten nicht dazu gezwungen werden und sie sollten sie jederzeit abnehmen können, wenn sie dies möchten.“ https://dgpi.de/covid19-masken-stand-10-11-2020/

Der Spracherwerb der Kinder und die mimische Interaktion werden stark beeinträchtigt. Dazu kommen Kinder mit einem anderen Sprachhintergrund und Kinder mit Hörstörungen (bis zu 1,5% der Kinder in Deutschland haben eine Hörstörung). Diese Kinder hatten schon vor der Pandemie Lernrückstände, die nun durch die langen Zeiten ohne Präsenzunterricht noch verstärkt wurden. Wäre es nicht wichtig, dass diese Kinder nun in der Schule die bestmögliche Förderung erhalten würden? Die DGPI schreibt in ihrer Handreichung zum Maskentragen bei Kindern: „Allerdings kann sich die Verständigung mit Kind und Eltern verschlechtern, weil die Maske als Filter besonders für hohe Frequenzen der Sprache wirkt, Lippenlesen unmöglich wird und der Gesichtsausdruck des Sprechenden weniger gut sichtbar ist.“ https://dgpi.de/covid19-masken-stand-10-11-2020/

Diese Problematik gilt natürlich erst recht für den Unterricht, da dort nicht in derselben Weise Rücksicht auf Verständnisprobleme genommen werden kann, wie in der Interaktion mit den Eltern.

Selbst nach den Empfehlungen der Unfallkasse NRW ist für Schüler kein durchgängiges Tragen der MNB vorgesehen: „Die UK NRW empfiehlt, ausreichende Zeitfenster einzuplanen, in der die MNB und MNS abgelegt werden kann (Kurzpausen). Sind Kurzpausen nicht möglich, sollte nach einer etwa 3-stündigen Tragezeit eine Erholungsdauer von etwa 15 – 30 min ermöglicht werden. Schaffen Sie als Schulleitung/Schulträger für räumliche und zeitliche Möglichkeiten, z.B. auf dem Schulhof oder in gut gelüfteten Flurbereichen. Dabei sind dann die Abstände untereinander von mindestens 1,5 m sowie die Husten- und Niesetikette einzuhalten.“ https://www.unfallkasse-nrw.de/fileadmin/server/download/PDF_2021/MNB_0501_2021.pdf

Wie sollen diese Vorgaben in den Grundschulen umgesetzt werden? In der Regel ist ein Lehrer:in für 30 Kinder zuständig und hat kaum Zeit MNB-Pausen anzuleiten. Unsere bisherige Erfahrung an Grundschulen, die schon eine MNB-Pflicht am Platz umsetzen, zeigt, dass diese Pausenregelung kaum in Schulen umgesetzt wird. In vielen Schulen tragen die Kinder durchgehend eine MNB, nur zum Trinken und Essen darf diese abgesetzt werden. Leider verzichten viele Kinder dann auf das Trinken, da sie sich nicht trauen zu fragen, ob sie die MNB absetzen dürfen. Die Kinder wechseln die MNB auch nicht, sodass sie oft völlig verdreckt und durchnässt ist, was zu neuen Problemen führt. Kinder, die sich eigenmächtig MNB-PAUSEN erlauben, bekommen teilweise schon jetzt „Weiße Zettel“ angedroht.

Darüber hinaus haben Sie eine MNB-Pflicht für den Sportunterricht festgelegt, obwohl Sie selbst am 08.10.2020 eine Empfehlung zum Sportunterricht unter Coronabedingungen herausgegeben haben, in der davon explizit abgeraten wird. In dieser Empfehlung schreiben Sie: „Das kontinuierliche Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung über die Dauer der gesamten Unterrichtsstunde ist für den Sportunterricht insbesondere in den Phasen starker physischer Betätigung ausdrücklich nicht vorgesehen. Situatives Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung, z.B. beim Helfen und Sichern im Bewegungsfeld „Bewegen an Geräten -Turnen“, ist möglich.“ https://www.schulministerium.nrw.de/system/files/media/document/file/201008_Anlage_Weitere%20Ausf%C3%BChrungen%20zum%20Sportunterricht%20unter%20Coronabedingungen.pdf

Was ist die Basis für die Änderung dieser Empfehlung? Gab es neue wissenschaftliche Erkenntnisse?

Die Unfallkasse NRW rät auch ausdrücklich vom Tragen einer MNB bei physischer Betätigung ab, ebenso die WHO und die DGKJ. https://www.unfallkasse-nrw.de/fileadmin/server/download/PDF_2021/MNB_0501_2021.pdf
https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/q-a-children-and-masks-related-to-covid-19
https://www.dgkj.de/fachinformationen-der-kinder-und-jugendmedizin-zum-corona-virus/faqs-maske-kinder-und-coronavirus

Aufgrund dieser Empfehlungen gehen wir davon aus, dass eine Klage in diesem Fall aussichtsreich wäre, deshalb bitten wir Sie, diese Vorgabe aus der Betreuungsverordnung zu streichen bzw. sie nicht mit hereinzunehmen.

Darüber hinaus ist für uns nicht nachvollziehbar, warum alle Klassenfahrten für das laufende Schuljahr abgesagt worden sind. Sonst propagieren Sie ein „Fahren auf Sicht“, nur in Schulen werden diese für den Klassenzusammenhalt wichtigen und pädagogisch wertvollen Gruppenaktionen schon jetzt gestrichen. Auch das Deutsche Jugendherbergswerk hat eine Erklärung zur nachhaltigen Wirkung von Klassenfahrten herausgegeben. Dort heißt es basierend auf einem Beschluss der KMK u.a.: „Durch den Aufenthalt von Schulklassen und anderen schulischen Gruppen in Schullandheimen können Unterricht und Erziehung in besonders günstiger Weise miteinander verbunden werden.“ https://rheinland.jugendherberge.de/klassenfahrten/gem-erklaerung-zu-klassenfahrten/

Die Belastungen durch die Pandemie machen den Kindern und Jugendlichen schwer zu schaffen, umso mehr brauchen sie positive Erlebnisse. Da kann gerade eine Klassenfahrt und der Aufenthalt an einem außerschulischen Lernort viel Gutes bewirken. Und wenn Sie gerade 75 Millionen Euro bereitstellen, um zusätzliche Ferienprogramme zu finanzieren, fragen wir uns, warum man nicht in festen Kohorten Klassenfahrten unternehmen kann, wenn man in durchmischten Gruppen Ferienangebote durchführen kann.

Zuletzt möchten wir noch das Thema Schul- und Vereinssport ansprechen. Eigentlich ist alles dazu gesagt. Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung Bewegungsangebote und da man jüngere Kinder schlecht „joggen“ gehen lassen kann, brauchen wir hier Angebote durch die Vereine, sodass überhaupt wieder Bewegung möglich ist. Hierzu gehört vor allem die sofortige Öffnung von Schwimmbädern.

Schwimmkurse sind ein direkter Schutz vor dem Ertrinken. Für Kinder mit Einschränkungen stellt das Schwimmen eine wichtige Bewegungstherapie dar, die ihre körperliche und geistige Situation verbessert und daher unbedingt sofort wieder starten muss.

Wir sind sicher, dass Ihnen all das bekannt ist und Sie eigentlich nur das Beste für die Kinder und Jugendlichen wollen. Dann tun Sie es aber bitte auch: Jetzt!

Mit freundlichen Grüßen

#lautfürfamilien